Am 11. Mai 2022 hat das französische Kassationsgericht die ersten zwei Entscheidungen gefällt, die die durch die sog. „Macron-Verordnungen“ von 2017 eingeführten Abfindungstabelle betreffen (Artikel L.1235-3 des Arbeitsgesetzbuches). Diese Tabelle legt ein Minimum und ein Maximum für die im Falle einer rechtsmissbräuchlichen Arbeitgeberkündigung ausgezahlte Abfindung fest, und knüpft ausschließlich an die Berufsjahre, die Größe des Unternehmens und das Bruttogehalt des gekündigten Arbeitnehmers an. Diese Abfindungstabelle ist nicht auf die im Artikel L. 1235-3-1 des Arbeitsgesetzbuches vorgesehenen Fälle anwendbar. Sie gilt unter anderem für die diskriminierenden Kündigungen (in Deutschland siehe das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG)) und die rechtsmissbräuchliche Arbeitgeberkündigung geschützter Arbeitnehmer während der Ausübung ihres kollektivarbeitsrechtlichen Mandats. Für diese Arten der Kündigung muss die Höhe des Schadensersatzes mit Betracht auf die Umstände des Einzelfalls bestimmt werden.
Die Tabelle hatte zum Zweck, die Gleichbehandlung der Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis rechtswidrig gekündigt wurde zu versichern und die Möglichkeit für den Arbeitgeber zu schaffen, die Kosten der Kündigung vorhersehbar au gestalten.
Die Abfindungstabelle traf auf starken Widerstand. Zahlreiche Richter der Tatsacheninstanzen wendeten sie nicht an und berechneten den Schadensersatz mit Bezug auf den konkreten Fall, wobei häufig die Obergrenzen der Tabelle überschritten wurden.
Obwohl das französische Kassationsgericht in zwei Gutachten von 2019 feststellte, dass die Abfindungstabelle im Einklang mit den internationalen Normen des Arbeitsrechts steht, ist es das erste Mal, dass bezüglich eines konkreten Rechtsstreits eine Entscheidung gefällt wurde. Mit den zwei Entscheidungen vom 11. Mai 2022, jeweils eine Urteilsaufhebung und die Ablehnung einer Revision (Arbeitsrechtliche Kammer des Kassationsgerichts, Nr. 21-14.490 und Nr. 21-15.247 vom 11 Mai 2022), werden hoffentlich fortan die Richter der Tatsacheninstanz die Verordnungen einheitlich anwenden. Laut der Kammer ist die streitige Tabelle mit Artikel 10 des Übereinkommens Nr. 158 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO)[1] vereinbar, der im französischen nationalen Recht unmittelbare Wirkung entfaltet. Somit widerspricht das oberste französische Gericht eindeutig der von den Gewerkschaften CGT und CGT-FO vertretenen Meinung, dass die Macron-Abfindungstabellen mit dem genannten Übereinkommen nicht vereinbar wären.
Die Entscheidungen des Kassationsgerichts sind für die Tatsacheninstanzen faktisch bindend auch wenn eine Abkehr von dieser Rechtsprechung nicht ausgeschlossen werden kann.
Es stellt sich nun die Frage, wie der Europäische Ausschuss für soziale Rechte (ECSR) über die französische Abfindungstabelle entscheiden wird. Tatsächlich hatte die Gewerkschaft CGT schon bevor das Gutachtens des Kassationsgerichts aus dem Jahre 2019 veröffentlicht wurde, den Europäischen Ausschuss für soziale Rechte zur Frage der Vereinbarkeit der Europäischen Sozialcharta (ESC) mit der französischen Abfindungstabelle angerufen. Der Europäische Ausschuss für soziale Rechte prüft, ob nationale Bestimmungen gegen die Europäische Sozialcharta verstoßen. Der Ausschuss hat mit Bezug auf die französischen Verordnungen noch keine Entscheidung getroffen.
Am 11. Februar 2020 verurteilte der Europäische Ausschuss für soziale Rechte allerdings die in Italien geltende Abfindungstabelle, die je nach Fall eine Obergrenze von 6, 12, 24 oder 36 Monatsgehältern vorsah, und der Macron-Regelung sehr ähnelte. Das gleiche widerfuhr dem finnischen System, das eine Obergrenze von 24 Monatsgehältern vorsah.
Da die Macron-Tabelle eine maximale Entschädigung von 20 Monatsgehältern vorsieht und damit weniger als die finnischen und italienischen Tabellen, kann man wohl davon ausgehen, dass der Europäische Ausschuss für soziale Rechte sich entsprechend seiner vorherigen Entscheidungen ausspricht.
Auch wenn eine solche Entscheidung für den französischen Staat oder seine Richter nicht bindend sein wird, könnte sie dennoch die politischen und rechtlichen Debatten beeinflussen. Bleibt zu hoffen, dass die französischen Richter die vom französischen Parlament gewählten Gesetze anwenden werden und nicht wieder ein politisches Scharmützel auslösen und die Entscheidung des Kassationsgericht Bestand hat.
[1] Internationale Arbeitsorganisation. Es ist eine spezielle Organisation der vereinten Nationen die internationale Normen des Arbeitsrechts festlegt. Sie wirbt für die Grundprinzipien und Rechte der Arbeit, die Verstärkung des sozialen Schutzes und des sog. „Sozialen Dialogs“ im Arbeitrecht.
Die Arbeit der IAO führte zur Ausarbeitung zahlreicher Übereinkommen.